Eine digitale Plattform für den Tanz: Das internationale Tanz-Daten-Netzwerk
Tanz hinterlässt Spuren. Während der Entstehung neuer Choreografien entstehen zahlreiche Dokumente: Notizen, Videoaufzeichnungen, Skizzen, Fotografien, schriftliche Kommunikation. Die fortschreitende Digitalisierung hat in den vergangenen Jahren dafür gesorgt, dass viele dieser Dokumente auch bei Tanzschaffenden unmittelbar digital vorliegen. Videokamera und Computer sind aus vielen Probenstudios kaum noch wegzudenken und werden für Recherche und im Schaffensprozess eingesetzt. Auch die Ergebnisse dieser Prozesse werden meist mittels Videoaufzeichnungen dokumentiert. Theoretisch entstehen dabei umfangreiche Archive, die immer seltener noch eines Digitalisierungsverfahrens bedürfen, nur praktisch gesehen finden die Dokumente nicht zusammen. Sie bleiben lose verteilt auf Festplatten, SD-Karten und Smartphones. Von einer umfassende Videodokumentation der Proben wird oftmals abgesehen, weil die dabei entstehende Menge an hermetischen Daten im Nachhinein kaum noch strukturierbar und daher auch kaum noch verwendbar ist. Aus ähnlichen Gründen werden viele Aufzeichnungen aus den Proben oft gar nicht aufbewahrt oder gehen verloren.
Aufnahme von „Will I Dream DuringThe Process?“ von Veronique Langlott an der Johannes Gutenberg Universität, 2018, Foto: Denis Klein / Motion Bank
Dem Problem des Probenarchivs nahm sich unter anderem die Forsythe Company an. Das Ensemblemitglied David Kern entwickelte die Webanwendung Piecemaker, die es ermöglicht Video und Textanmerkungen (Annotationen) am Computer gleichzeitig aufzuzeichnen und beides automatisch miteinander verbindet. Die umfangreichen Inhalte aus sechs Jahren Probendokumentation können dadurch chronologisch strukturiert dargestellt werden, sind durchsuchbar und damit auch sinnvoll nutzbar. Diese Möglichkeit ist nicht nur wertvoll für die Tanzschaffenden selbst, die ihr eigenes Material jederzeit wieder einsehen können, sondern auch für die Tanzforschung. Motion Bank übernahm die Piecemaker-Anwendung von der Forsythe Company, entwickelt sie bis heute weiter und erweitert sie um ein System zur Einbindung anderer digitaler Dokumente und der Veröffentlichung von ausgewählten Inhalten im Web.
Diese Systeme bilden die technische Grundlage für das im vergangenen Jahr von Anton Koch für Motion Bank entwickelte Konzept für ein internationales Tanz-Daten-Netzwerk. Dafür wurden einerseits die nötigen technischen Implementierungen in die bestehenden Systeme ermittelt, andererseits mit möglichen Gründungspartnern des Netzwerks inhaltlich-konzeptionelle Anforderungen geprüft. Der daraus resultierende Kerngedanke ist es, eine Plattform zu bieten, die es ermöglicht, die ohnehin digital vorliegenden Dokumente der Tanzschaffenden zusammen zu bringen und zu verbinden. Aktuelle Webtechnologien, wie die des Semantik Web und Linked Data sollen dies ermöglichen. Der jetzt schon simple Aufbau der Benutzeroberflächen der Systeme soll erhalten bleiben und wo nötig verbessert werden, um es Choreograf*innen und Tänzer*innen weiterhin zu ermöglichen ihre Praxis selbst zu dokumentieren. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist auch, dass die Software frei zugänglich ist. Für das Netzwerk ist eine dezentrale Infrastruktur vorgesehen. Das bedeutet, dass die erfassten Daten in einzelnen Knoten anstatt an einem zentralen Ort gespeichert werden. Solche Knoten können Tanzkompanien, Theater, Archive, Forschungseinrichtungen oder auch einzelne Choreograf*innen sein. Sie entscheiden dann selbst welche ihrer Daten auch für andere Knoten und Teilnehmer*innen im Netzwerk zugänglich sind und welche nicht. Größere Einrichtungen mit entsprechender Infrastruktur, wie bspw. Archive, können sich entscheiden die Daten bestimmter kleinerer Teilnehmer*innen zu replizieren und damit auch den langfristigen Erhalt dieser Daten sicher zu stellen. Das Tanz-Daten-Netzwerk strebt mit diesem Ansatz ein alternatives Modell zu kommerziellen Plattformen wie Facebook und Co an, bei denen die Nutzer*innen alle ihre Daten zur zentralisierten Speicherung, Auswertung und Weiternutzung abtreten müssen. Durch die Arbeit an einem Konzept für das Tanz-Daten-Netzwerk konnte dieser Ansatz herausgearbeitet werden. Es konnten außerdem potenzielle Partner für die Umsetzung gefunden und technische und konzeptionelle Anforderungen geklärt werden. Gleichzeitig wurde auch deutlich, dass bei der Umsetzung des Konzepts noch zahlreiche Details zu klären sind. Dazu gehören beispielsweise die Bearbeitung rechtlicher Fragen und die Implementierung eines entsprechenden Rechtemanagements, das die Rechte der Teilnehmer*innen am Netzwerk wahrt und gleichzeitig Austausch und Vernetzung ermöglicht. Auch auf einer inhaltlichen Ebene muss bei der Umsetzung an einer sinnvollen Vernetzung der Daten gearbeitet werden. Nicht zuletzt gilt es die Tanzschaffenden mit den nötigen Methoden und dem technischen „Knowhow“ auszustatten.
Motion Bank sieht in dem Tanz-Daten-Netzwerk die einzigartige Chance den Tanz zu stärken, indem seinen Spuren zu Sichtbarkeit verholfen wird und sie – als Kulturerbe – erhalten werden. Entscheidend ist jedoch nicht nur der bewahrende Aspekt, die Aufzeichnungen sollen in erster Linie die Künstler*innen bei ihren Schaffensprozessen unterstützen. Die entstehenden Archive, werden in diesem Sinne als lebendige Archive verstanden, mit deren Inhalten weiter gearbeitet wird. Es können sich dabei auch ganz neue Möglichkeiten des Austausches ergeben, der nicht zuletzt für die Tanzausbildung und die Weitergabe von Tanzwissen von großer Bedeutung sind. Auch für die Tanz- und Theaterwissenschaft werden dabei einzigartige Ressourcen geschaffen, wie die Probenaufzeichnungen der Forsythe Company in der Vergangenheit bereits gezeigt haben. Die letzten Monate der Vorbereitung des Konzepts zum Tanz-Daten-Netzwerk haben vor allem eines gezeigt: Dass es für viele eine Bereicherung ihrer Arbeit sein wird.
Der Autor
Anton Koch ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Hochschule Mainz und leitender Softwareentwickler des Motion Bank Forschungsprojekts.
Titelbild
Tracking während des „ChoreographicCodingLabs“ im Projekt „BetweenUs“ an der Hochschule Mainz, 2018, Foto: Motion Bank
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